Die Göttermutter Rhea
von Sandra Mauler (Sassa)
Rhea |
Rhea, die Tochter des Himmels (Uranos) und der Erde (Gaia), gehört zum Geschlecht der Titanen, ebenso wie ihr Bruder und Gemahl Kronos, welcher nach der Entmachtung des eigenen Vaters dessen Platz an der Spitze der kosmischen Regentschaft antrat. Mythologisch tritt sie eigentlich nur einmal in Erscheinung und zwar als Mutter der ersten sechs Olympier. Der Mythos erzählt, dass ihr Gatte aufgrund einer Prophezeiung die göttlichen Kinder, welche sie ihm gebar, direkt nach deren Geburt verschlang. Als ihr dritter Sohn geboren werden sollte verbarg sich Rhea aber vor Kronos und brachte das Kind, Zeus, auf der Erde, auf Kreta zur Welt. Anstelle des Säuglings, reichte sie ihrem Gatten auf dessen Verlangen hin dann einen in Windel gewickelten Stein, welchen dieser sofort verschlang. Zeus aber wuchs zu einem strahlenden jungen Gott heran und mit der Hilfe seiner Mutter und Geschwister, welche er befreien konnte, gelang es ihm seinen Vater zu unterwerfen und die Herrschaft über den Kosmos zu erringen. |
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Letztendlich ist es also Rhea, durch welche die Herrschaft des olympischen Geschlechtes seine Legitimation erhält. In ihrer mythologischen Handlungsweise sorgt sie für die Erfüllung jener Prophezeiung, welche dem Kronos das Ende seine Herrschaft und seine Ablösung durch seine eigenen Nachkommen ankündigt.
Ihre Rolle als Königin der Götter übt Rhea daraufhin der Mythologie zufolge nur mehr auf der Insel der Seligen an der Seite des Kronos aus, die Regentschaft über Himmel, Erde und Meer jedoch hat sie an eine ihre Töchter, an Hera weiter gegeben welche ihrem Brudergemahl Zeus als Götterkönigin zur Seite steht. In der lateinischen Umschrift bilden die Namen der beiden Göttinnen übrigens zufälligerweise ein Anagramm (1).
Der Name der Titanin Rhea leitet sich mit großer Wahrscheinlichkeit vom altgriechischen Verb rheo (=fließen bzw. Fluss) her. Sie ist es, welche den Fluss des Lebens bewahrt. Indem sie verhindert, dass ihr Gemahl auch ihren jüngsten Sohn verschlingt, sorgt sie in letzter Konsequenz dafür, dass das Lebensrad sich weiter dreht, das Alte vom Neuen abgelöst wird, wie dies immer der Fall sein muss, solange das Leben weiter fließt. Rhea repräsentiert den steten Fluss der Zeit ebenso, wie jenen der Generationen. Sie steht für jene grundlegende Konstante unserer Existenz, dass nämlich Nichts auf immer so bleiben kann, wie es ist.
In der Deutung ihres Namens muss aber auch das griechische rhadios (=leichthin bzw. Leichtigkeit, Unbeschwertheit) berücksichtigt werden. So treffen wir in der Titanin eben jene Leichtigkeit an, welche aus der Sicherheit resultiert, dass alles so ist, wie es sein muss, nämlich in der Ruhe des beständigen Flusses. Es ist unnötig sich über Vergangenes zu Ärgern oder Zukünftiges zu fürchten, denn beides ist schlicht und ergreifend bedeutungslos. Darin finden wir das verlorene, unbeschwerte Glück unserer Kindheit, als jeder Moment heilig sein konnte und es auch war, und nach dem wir uns als Erwachsene noch zurück sehnen. So nehmen wir es auch von den paradiesischen „alten Zeiten“ an, den Kindertagen der Menschheit sozusagen, jenem goldenen Zeitalter, welches unter der Herrschaft des Kronos und der Rhea in den elysischen Gefilden bis heute noch andauern soll und somit eine Brücke von der Vergangenheit zur Zukunft bildet.
In ihren Kulttiteln und Beinamen ist Rhea in erster Linie Mêtêr (= Mutter), als Mêtêr Theon (= Göttermutter), oder auch einfach als Mêtêr Megalê (= große Mutter) oder gar Mêtêr Pantôn (= Allmutter). Als diese große Mutter kommt ihr im Kult auch meist eine besondere Bedeutung für die weibliche Fruchtbarkeit zu. Zumeist wird sie aber an der Seite ihres Gemahls Kronos verehrt. Besungen wird die Titanin unter anderem von Homer in dessen 14. Hymne. Von den Orphikern kennen wir gleich zwei Hymnen, welche an Rhea (Nr. 14) und an die Meter Theon (Nr. 27) gerichtet sind.
Rhea reitend auf einem Löwen (Pergamonaltar, Berlin)
In der Plastik und Malerei wird Rhea manchmal in ihrem (Streit-)Wagen fahrend und manchmal auf ihrem Thron sitzend dargestellt. Begleitet wird die Titanin dabei zumeist von Löwen, die manchmal auch ihren Wagen ziehen. Auf ihrem Haupt trägt sie die Mauerkrone. Die edlen und kräftigen Tiere gelten als ein wichtiges Symbol ihrer Macht, schließlich kennen Löwen, von den bewaffneten Menschen einmal abgesehen, keine natürlichen Feinde und werden auch heute noch als die Könige der Tiere bezeichnet. So sind sie königlich wie ihre Herrin. Ein weiteres Symbol der Rhea ist die Weiß- bzw. Silbertanne, jenes Nadelgehölz das in unseren Gefilden heute so oft geschmückt und erleuchtet als Weihnachtsbaum herhalten muss. Aufgrund ihres Wuchses und anderer Eigenschaften wurden die Stämme dieses Baumes in früheren Zeiten häufig zu Mastbäumen für die Seefahrt verarbeitet. Pindar zufolge zählt übrigens auch Pan, jener ziegenbeinige Gott der Berge und Wälder zur Gefolgschaft der Rhea, wie auch die Wildnis der Berge zu ihrem besonderen Hoheitsgebiet zählt.
(1) Der Begriff des Anagramms bezeichnet ein Wort welches durch die Umstellung einzelner Buchstaben aus einem anderen Wort gebildet wird, also zum Beispiel Einbrecher <-> bereichern