Themis

von Ewald K Strohmar (Akesios)


Themis

Hinter einem großen Mann steht immer eine große Frau, sagt man. Dies scheint auch für die Götter zuzutreffen. Denn Themis war (laut Pindar) die erste Frau des Zeus (laut Hesiodos die zweite nach Metis) und als solche war es ihre Aufgabe, dem Göttervater Rat zu geben - was nicht nur viele Autoren, sondern auch zahlreiche Vasenbilder bezeugen.

Wer aber ist diese Themis? Wie bei allen Gottheiten, die nicht eigentlich zu den olympischen gehören, stellt sich die Frage: ist sie eine vorhellenische Gottheit, die in das System eingefügt wurde, oder hat sie etwa allegorische Bedeutung? Der Name Themis bedeutet "die Regel der Natur, die Norm des Zusammenlebens der Geschlechter, ja des Zusammenlebens der Götter und Menschen überhaupt" (1). Etymologisch setzt sich das Wort aus "setzen, legen, stellen" und dem "kraftvollen" Suffix zusammen, also drängt sich die Bedeutung "das Ge-setz, das für alle gegeben wurde" (2) auf.

Sie ist direkte Tochter des Ursprungs aller Dinge, also mythologisch von Ouranos und Gaia, und stellt die Personifizierung einer offenbar seit Anbeginn der Zeit vorhandenen natürlichen Rechtsordnung dar (3). Sie ist einerseits hyperkosmisch, da sie über allen Göttern und Menschen steht, sogar Zeus ist dem natürlichen Recht unterworfen, andererseits auch enkosmisch, ihr Wirkungsbereich ist direkt in unserer Welt zu finden - das wird mythologisch durch die Ehe mit Zeus, die sie in unsere Welt holt, und die Beraterfunktion ausgedrückt.
   

Marmorstatue der Themis
aus dem Tempel der Nemesis in
Ramnunta, 3. Jahrhundert v.Chr.,
Archäologisches Nationalmuseum Athen


Doch sie wird noch näher an uns gerückt, ihre Bedeutung noch mehr verstärkt durch das Orakel in Delphi. Dieses ist ja ursprünglich, als Stätte mit starkem Erdbezug, Orakel der Gaia und erweist sich erst später dem Apollon zugehörig. Dazwischen steht Themis, die Tochter der Gaia (4), wie z.B. bei Aiskhulos Eum.2, Pausanias X.5,6 oder Ploutarkhos Def.orac.421c zu lesen ist. Das Orakel ist also jene Institution, die das natürliche, göttliche Recht direkt zu den Menschen bringt. Hier zeigt sich übrigens auch eine Identifikation mit Demeter (in ihrer Rolle als "Gesetzesbringerin", Thesmophoros), und man kann annehmen, dass hier Elemente des indigenen religiösen Gutes in die Zeusreligion hineingenommen wurden, Demeter war hoch verehrt als Frucht bringende Erdmutter und, als Themis, Rat bringende "weise Frau".

Die Töchter der Themis bringen uns wieder auf die metaphysische Ebene: einerseits sind das die Horen, andererseits die Moiren - sie alle werden gesondert besprochen, hier sei nur kurz die Erwähnung erlaubt, dass sie, anders als ihre Mutter, die das Grundprinzip des Rechts darstellt, für Teilbereiche des göttlichen und menschlichen Zusammenlebens bzw. Schicksals im zeitlichen Ablauf stehen. Ihre Bedeutung zeigt sich daran, dass sie z.B. in Megara im Zeustempel ihre Schreine hatten (5), also auch Zeus dem Ablauf der Zeit sowie dem Schicksal unterworfen ist. Themis selbst steht aber über der Zeit, und so ist sie eben in der Lage, den Menschen die Zukunft bekannt zu geben. 

Die orphische Hymne zeigt uns noch eine weitere Facette der Themis: nicht nur die Geheimnisse des Orakels, sondern auch die der dionysischen Mystengemeinschaft sollen von ihr stammen. Nun kennen wir zwar die eleusinischen Mysterien um Demeter und Persephone und haben auch Themis' Bezug zu Demeter besprochen, woher stammt aber die Verbindung mit Dionysos? Die Sekundärliteratur gibt dazu nichts her, denn auch die Primärquellen schweigen hierzu. Meiner Ansicht nach handelt es sich daher um einen dichterischen (oder ideologischen) Kunstgriff: um dem Wunsch nach einer Verknüpfung der uralten, erdnahen, möglicher Weise primär khthonischen, Kulte um Ge-Demeter und Dionysos, die in sich in diversen Mysteriengemeinschaften erhalten haben, mit der neuen griechischen Staatsreligion um Zeus nachzukommen, wurde der Inbegriff des göttlichen Rechts als Grundlage dieser prähellenische Religion ausgewiesen, und somit legitimiert. Dies ist umso wichtiger, als ja sehr viele Menschen den Mysterienkulten angehörten und dennoch, als "brave Bürger" an den offiziellen Kulthandlungen Teil nahmen - dies sollte sich ja nicht ausschließen. 


    Die Bedeutung der Themis scheint mir darin zu liegen, eine allen Göttern und Menschen übergeordnete Gottheit nennen zu können, die seit alters her berechtigt und befugt ist, das natürliche Recht zu repräsentieren, und uns somit in die Lage versetzt, die Existenz eines solchen zu behaupten. Durch ihre den Zeus beratende Funktion stellt sie sich jedoch nicht über, sondern in den Kreis der Götter, und durch das Orakel kommt sie in die Nähe der Menschen. Hierdurch wird auf beiden Ebenen, der göttlichen und der menschlichen, eine ganz andere Beziehung hergestellt als dies bei Religionen der Fall ist, die einen höchsten, für alles zuständigen, unfehlbaren, allwissenden, allmächtigen Gott postulieren, denn immer bleibt dem angesprochenen Gott oder Menschen die Wahl, den Rat nicht anzunehmen, und somit sicherlich größere Freiheit, denn es handelt sich nicht um göttliche Gebote, deren Nichtbefolgung Bestrafung nach sich zieht, sondern Ratschläge.

(1) K.Kerényi, Die Mythologie der Griechen I, S.82
(2) vgl. z.B. R.Köstler, "Homerisches Recht", Österr. Bundesverlag 1950
(3) das Wort themis wird, anders als z.B. nomos, niemals für menschlich gesetztes Recht verwendet!
(4) als Ge Themis findet sie sich bei Aisch.Prom.210, dann erst wieder in der Kaiserzeit belegt - Wilamowitz, GdH.I,S.202
(5) Paus. 1.40.4